Was hat ein Traktor mit Migrationsgeschichte in Ostdeutschland zu tun?
Ein Traktor, der heute noch in der Provinz Haseke in Syrien bei einem kurdischen Landwirt im Einsatz ist, bildet den Ausgangspunkt der Reise in die Zeitgeschichte und in die historische Bildungsarbeit mit Zeitzeug*innen. Dieser Landwirt ist der Cousin von Mustafa Bico, der seit 1999 mit seiner Familie in Halle (Saale) lebt. Der Traktor wurde 1984 bestellt und 1985 nach Aleppo in Syrien geliefert. Mustafa Bico hat ihn selbst noch gefahren und er erinnert sich an weitere Traktoren der gleichen Firma bei benachbarten Familien und Bekannten. Da der Traktor gut funktionierte, wurden bis 1995 weitere Maschinen bestellt und nach Syrien geliefert.
Produziert wurde der Traktor im Kombinat „Fortschritt Landmaschinen“ in der Oberlausitz. Dort haben viele Vertragsarbeiter zum Beispiel aus Vietnam und Kuba gearbeitet. Thuat Ha Sy, Agustin Velazquez Silva und Santiago Calix-Hernandez leben bis heute in der Oberlausitz und haben im Kombinat gearbeitet. Im Metallzuschnitt oder als Schweißer haben sie Landmaschinen hergestellt, vielleicht sogar genau diesen Traktor. Von ihrer Arbeit haben sie im Zeitzeugengespräch in Bautzen am 29. September 2021 erzählt.
Ein weiterer Zeitzeuge ist Christian Tuschling. Er war im Vertrieb des Kombinats tätig und auch in Syrien für den Verkauf und die Wartung der Produkte aus den Werken in der DDR zuständig. Ob er genau diesen Traktor verkauft hat, können wir aber nicht mehr herausfinden.
Entdeckt haben wir die Verbindungen, als wir bei Mi*story über die Veranstaltung in Bautzen sprachen. Mustafa Bico, Mitarbeiter im Projekt, dachte beim Namen „Fortschritt“ sofort an den Traktor, der schon lange auf den Feldern im kurdischen Dorf seine Arbeit tut. Er fragte nach einem Foto und befragte seine Verwandten nach den Details.
Diese Geschichte zeigt die Verwobenheit von Geschichten und Geschichte über die räumlichen Grenzen und über die Zeit hinweg und verbindet die Lebensgeschichten von Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Sie veranschaulicht am Beispiel des in der DDR produzierten Traktors ein Stück Zeitgeschichte der DDR und ihrer Industrie- und Arbeitskultur. Gleichzeitig öffnet sie den Blick für die Zusammenhänge von internationaler Migration als Teil der DDR-Geschichte sowie ihre Einbettung in eine globale Ökonomie.